Monday, October 27, 2008

Keine Tränen für die gewöhnlichen Leute?

Keine Tränen für die gewöhnlichen Leute?
Artikel aus der Times of India vom 19. Oktober 2008
Autor: Neelam Raj



Es ist beinahe Mittag in Belwa, einem kleinen Dorf im Bezirk Varanasi in dem nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh, als die Frauen des Dorfes sich versammeln, um das Essen vorzubereiten. Doch dieses ist in Windeseile fertig. Ein wenig Brot und Salzwasser. Eintunken....und die hungrigen Kinder schlingen ihr erstes – und letztes – Tagesmahl hinunter.

„Abends werden sie wieder weinen aber eine kleine Ohrfeige oder zwei wird sie ruhigstellen,“ sagt Laxmina, Frau eines Ziegelbrenners und dreifache Mutter. Ihr Gesicht ist vollkommen ausdruckslos, ihre Stimme jedoch verrät ihre Verzweiflung. Jene Monate sind die schlimmsten in Belwa. Wenn die Ziegelöfen im Juli geschlossen werden und dies auch bis Oktober bleiben, beginnt in dem kleinen Dorf der Überlebenskampf der Musahars, jener, die Indiens niedrigster Kaste angehören. Es sind ihre Kinder, die am meisten darunter leiden. Gesundheitsuntersuchungen der Einwohner Belwas durch das People’s Vigilance Committee for Human Rights, eine Organisation, die in der Region arbeitet, ergab, dass mehr als 80% der Kinder des Dorfes unterernährt sind.

„Im letzten Jahr sind die Nahrungsmittelpreise rapide gestiegen, die Höhe der Einkommen jedoch nicht. Es ist unmöglich, die Kinder bei guter Gesundheit zu erhalten, wenn sie sich lediglich von Brot ernähren, ganz ohne Milch und Gemüse,“ sagt Lenin Raghuvanshi, ein Aktivist der PVCHR. Aufgeblähte Bäuche und unterentwickelte Extremitäten sind jedoch nicht nur im östlichen Uttar Pradesh die traurige Realität.

Folgende Statistiken geben Auskunft über den Allgemeinzustand Indiens:

• Laut einem UN-Report leiden in Indien 4 von 10 Kindern an Unterernährung.

• Indien belegt den 66. Rang von 88 Ländern im Global Hunger Index 2008. Der Bericht trägt zutage, dass es in Indien mehr Hungernde gibt – mehr als 200 Millionen – als in jedem anderen Land.

• Laut neuester Schätzungen der Weltbank beherbergt Indien ein Drittel der weltweit unter der Armutsgrenze lebenden. Basierend auf der aktuell gesetzten Armutsschwelle – 1,25 US-Dollar pro Tag – ist eine Steigerung der Anzahl in Armut lebender Menschen in Indien von 421 Millionen im Jahr 1981 auf 456 Millionen im Jahr 2005 zu verzeichnen.

• Indien liegt laut Human Development Index derzeit auf Rang 128 von 177 Ländern. Dieser Index richtet sich nach dem BIP eines Landes und darüber hinaus nach dem Stand der Entwicklung über die Indikatoren Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate und Lebensstandard.

Verloren diese alarmierenden Zahlen nun an Bedeutung als man eine Steigerung des BIP feststellen konnte? Wurden in Zeiten des Wirtschaftsbooms Indiens – möglicherweise bewusst – die düsteren Zustände vergessen? Man führe sich nur Aravind Adiga’s Geschichte eines Rikschafahrers zu Gemüte, um sich die harten Fakten hinter der Fiktion in Erinnerung zu rufen. Im Verlauf der Geschichte verlässt er die „Dunkelheit“ des ländlichen Indiens und zieht in das „Licht“ des urbanen Gurgaon. Inmitten der Call Centres, der 360,000,004 Gottheiten, der Einkaufzentren und der lähmenden Verkehrsstaus ist der Protagonist des Buches mit dem modernen Indien konfrontiert.

„The cars of the rich go like dark eggs down the roads of Delhi. Every now and then an egg will crack open and a woman's hand, dazzling with gold bangles, stretches out of an open window, flings an empty mineral water bottle onto the road and then the window goes up, and the egg is resealed.''

Die trostlose Realität findet in dieser Welt keinen Platz. „Ungleichheit und Ungerechtigkeit haben uns immer schon umgeben,“ meint Menschenrechtsaktivist Harsh Mander. „Aber der Unterschied zur heutigen Zeit ist, dass es nicht einmal mehr Empörung hervorrufen zu scheint. Es besorgt uns nicht, dass die Hälfte der Kinder Indiens noch immer unterernährt ist, oder dass 200 Millionen Menschen jede Nacht hungrig zu Bett gehen; dass der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung immer noch abhängig ist von den Finanzen und dem sozialen Rang der Familie, in die man hineingeboren wird; dass tausende Kinder bitterkalte Winternächte auf schmutzigen Gehsteigen unter freiem Himmel verbringen; dass ein Krankheitsfall im Haushalt die permanente Verarmung der ganzen Familie bedeuten kann; dass Frauen am härtesten Arbeiten, aber den geringsten Verdienst erzielen; und dass Dalits und andere Minderheiten nicht nur den Gefahren der Deprivation ausgesetzt sind, sondern auch jenen des organisierten Hasses. Es scheint, als hätten wir im Kollektiv beschlossen, jene in Armut lebenden Menschen sogar aus unserem Gewissen und unserem Bewusstsein zu verbannen.“

Auf der anderen Seite wird der verschwenderische Lebensstil der Reichen gefeiert. „Es ist kein Wunder, dass die soziale Unzufriedenheit wächst. Im Grunde ist die einzige Überraschung die geringe Anwendung von Gewalt um uns,“ sagt Satish Deshpande, Professor der Soziologie and der Wirtschaftsschule Delhi.

Wird es immer so bleiben? „Die Unabhängigkeit Indiens besteht nun seit 60 Jahren und die Ungeduld wächst,“ hebt Deshpande hervor. Letzten Endes ist das Lesen über Indiens chronische Entwicklungsdefizite eine Sache, damit zu leben eine gänzlich andere.

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